Wenn man dem Beispiel folgt, das mir in der letzten Woche in einem tiefgründigen Gespräch über Alltagsrassismus (ein Thema, das wir ja hier schon früher einmal hatten) und seine Ursachen einfiel und das ich nachfolgend versuchen werde zu erklären: Gar nichts. Im Gegenteil.
Es gibt Menschen, die andere gesellschaftliche Regeln kannten, als sie für einige heute selbstverständlich sind. Und diese geben sie natürlich auch an ihre Kinder weiter. Dadurch entsteht ein Missverhältnis aus verschiedenen Lagern, die beide ihre jeweilige Einstellung und Sichtweise für die richtige halten. Es funktioniert auf keinen Fall, eine nicht mehr zeitgemäße Einstellung zum gesellschaftlichen Wandel einfach als gegeben hinzunehmen und Leuten zu sagen, das sei jetzt die Regel und sie müssten damit einfach zurecht kommen.
Das konnte ich als Kind schon in Mathe nicht leiden – und auch nicht wirklich gut umsetzen. Klar, wenn im Mathebuch ein neues Thema begonnen wurde und auf der ersten Seite standen Formeln und Aufgaben, die es zu lösen galt, dann war klar, dass es um das Thema geht, das dort beschrieben wurde. Schon, wenn die Themen der letzten Seiten vermischt wurden, wurde das schwieriger. Und spätestens in Aufgaben mit Bezug zur Realität („Textaufgaben“) in der Klausur war es dann oft mehr Rätselraten als das Abrufen von Wissen, um welchen mathematischen Themenbereich es ging und wie die Aufgabe dementsprechend zu lösen ist.
Gehen wir mal davon aus, jemand lernt, dass es gesellschaftlich absolut anerkannt und völlig unbedenklich ist, das N-Wort zu sagen. Und irgendwann, Jahre später, kommen Menschen mit erheblich viel weniger Lebensjahren und – vermutlich – Erfahrung und weisen darauf hin, dass das falsch ist. „Rassistisch“ nennen sie das. Von Rassismus hat man natürlich schon gehört. Aber warum soll denn das jetzt plötzlich auf einmal rassistisch sein? Warum soll eine Formel, die bisher immer funktioniert hat, plötzlich nicht mehr funktionieren? Und das ganz ohne Begründung, Erklärung, Moderation.
In Mathe geht das: Man stellt eine Regel auf, egal, ob man ihren Hintergrund versteht oder nicht, hat man die Möglichkeit dieser Regel zu folgen oder nicht. Es ist eine ganz eigene Entscheidung, die man für sich selbst trifft. Wendet man die Regel nicht an, bemerkt man seinen Irrtum daran, dass das Ergebnis nicht funktioniert. Die Rechnung geht nicht auf. Angenommen, man folgt der Regel: Dann findet man heraus, dass die Aufgabe gelöst wird. Man hat ein überprüfbares Ergebnis, eine Zahl, die funktioniert.
Was aber ist nun mit unserem N-Beispiel? Auch hier kann man sich entscheiden. Der „neuen“ Regel zu folgen, oder nicht. Wenn man vorgeht, wie in Mathe, und bleibt skeptisch, ob die neue Regel wirklich funktioniert und wendet stattdessen, wie bisher auch immer, weiterhin die alte an, dann gibt es keine Zahl, kein überprüfbares, messbares Ergebnis für diejenigen, die die Rechnung angehen. Es gibt also – ohne hinreichende Erklärung – keinen sichtbaren Grund, an der bisherigen Vorgehensweise etwas zu ändern.
Was man in Mathe eben schlichtweg nicht sagen kann, weil es entweder ein funktionierendes Ergebnis gibt oder nicht, kann man – ohne entsprechende Überzeugung – im Fall von Rassismus eben durchaus. Hier liegt die Aufgabe. Man muss insbesondere den Menschen, die nicht aus ihrer Überzeugung heraus handeln, aus einem Selbstverständnis, das ihnen von Geburt, von elterlicher oder gesellschaftlicher Sozialisierung oder eben sogar auch durch Überzeugung(sarbeit) gegeben wurde, dieses Selbstverständnis vermitteln. Ein Fehler, den auch die Politik, aber unsere gesamte Gesellschaft meiner Meinung nach viel zu häufig begeht.
„Für mich ist das selbstverständlich, deshalb muss es das für dich auch sein!“
Verlassen wir doch einfach öfter den eigenen Standpunkt! Horchen wir in andere hinein! Warum empfindet ein Mensch so? Was sind seine Beweggründe, seine Emotionen? Und was kann ich tun, um ihn von meiner Position zu überzeugen – und nicht, sie ihm vorzusetzen und aufzuzwingen. Viele Menschen in unserer Republik fühlen sich und ihre Probleme nicht ernst genommen, nicht verstanden. Weil „die da oben“ und „die anderen“ eben nur immer wieder sagen, dass falsch ist, wie sie die Welt sehen und immer gesehen haben. Aber nur selten habe ich erlebt, dass sich jemand die Mühe macht, zu erklären, warum man eigentlich das N-Wort jetzt nicht mehr sagt.
Wo wir gerade dabei sind: Warum eigentlich nicht? Ich weiß, dass das rassistisch ist. Und ich weiß, dass das Menschen verletzt. Aber ob mir das jemals jemand wirklich ausführlich erklärt hat, weiß ich nicht. Gibt es beispielsweise einen Unterschied, wenn ich etwas sage, das als rassistisch gedeutet werden kann, das aber gar nicht so meine? Was, wenn ich einfach nur nicht weiß, dass ein bestimmter Begriff eine Beleidigung sein kann? Wer entscheidet, was Rassismus ist? Ich weiß, ich wiederhole mich zu diesem Thema, aber das zeigt vielleicht auch nur, wie wichtig es mir eigentlich ist.
Als ich Kind war, hatte ich bei meiner Oma ein Liederbuch für Kinder mit diesem Titel. Mir kam daran nichts bedenklich vor. Weil ich den negativen Kontext dieses Begriffs nicht kannte. Und für mich ein offensichtlicher Unterschied zwischen manchen Menschen bestand: Die Hautfarbe. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Eine Zeit lang dachte ich, dass eben mit diesem Wort die unterschiedliche Hautfarbe beschrieben wird. Natürlich weiß ich inzwischen, dass es weit mehr ist, als das. Natürlich ist das Liederbuch längst aus dem Schrank meiner Oma verschwunden. Vermutlich, weil irgendwann irgendjemand verstanden hatte, warum es da nicht mehr hingehört.
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