Es muss nicht immer gleich ein Massaker sein. Die jüngsten Ereignisse sollten uns auch lehren, noch mehr auf uns selbst zu schauen. Das Attentat von Orlando, Schlägereien im Fußballstadion und die immerwährende Flüchtlingsdiskussion haben vieles gemeinsam. Überall werden Menschen dafür verachtet, angegriffen und sogar getötet, dass sie anders sind, als andere Menschen das für richtig halten. Zum Teil sogar nur dafür, dass sie anders sein könnten als andere das für richtig halten. Und diese Annahme, dass ein Mensch aufgrund seines Aussehens, seines Verhaltens, seiner Sprache oder auch nur aufgrund seines Aufenthaltsortes anders, ja, falsch sei, beginnt ganz klein. In den Tiefen der eigenen Gefühlswelt, im Unterbewusstsein und womöglich schon ganz weit in der Vergangenheit, in der ersten Zeit in der ein Mensch sozialisiert wird.

Ich muss auf mich selbst schauen

Ich selbst ging vor ein oder zwei Wochen durch die Stadt und ein Kleinbus hielt am Straßenrand. Daneben stand ein Mann, an dem mir einige Dinge auf den ersten Blick auffielen:

Ich merkte aber auch, wie ich ihn sofort, ganz automatisch in mehrere Kategorien einordnete:

Und zu meinem Erschrecken dachte ich sogar:

Ich musste ganz bewusst entscheiden: „Nein, natürlich nicht.“ Ich grüßte freundlich nickend und er nickte zurück. Ganz normale Alltagsbegegnung zwischen zwei fremden Menschen auf offener Straße in Deutschland.

Und trotzdem konnte ich nicht umhin, seitdem mehrfach darüber nachzudenken, was mir in dieser Situation durch den Kopf ging. Diese unscheinbare und, von ihrem sichtbaren Verlauf her, völlig normale Alltagssituation hat mich verändert.
Ich stellte mir als erstes Mal ganz entscheidende, geradezu existenzielle Fragen über mich selbst:

Wer ist Rassist – und wer nicht?

Um insbesondere die beiden letzten Frage zu beantworten, muss man als erstes genau wissen, was genau jemanden zum Rassisten macht. Für eine erste Definition empfiehlt sich ein Blick ins Wörterbuch, in meinem Fall in den Duden. Dort steht:

Ras­sist, der

dem Rassismus (1) anhängender, rassistisch eingestellter Mensch

Und unter Rassismus:

Ras­sis­mus, der

  1. (meist ideologischen Charakter tragende, zur Rechtfertigung von Rassendiskriminierung, Kolonialismus o. Ä. entwickelte) Lehre, Theorie, nach der Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen mit bestimmten biologischen Merkmalen hinsichtlich ihrer kulturellen Leistungsfähigkeit anderen von Natur aus über- bzw. unterlegen sein sollen
  2. dem Rassismus entsprechende Einstellung, Denk- und Handlungsweise gegenüber Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen mit bestimmten biologischen Merkmalen

Die wichtigste Erkenntnis, die ich aus diesem Eintrag ziehen konnte, ist folgende: Es gibt unterschiedliche Definitionen von Rassismus. Und demnach auch unterschiedliche Formen von Rassismus. Fest steht: Ich bin nicht im geringsten der Meinung, dass irgendein Mensch aufgrund seiner biologischen Merkmale irgendeinem anderen Menschen von Natur aus hinsichtlich seiner kulturellen Leistungsfähigkeit unterlegen ist. Klar, manche Menschen können schneller laufen als andere, manche besser Kopfrechnen. Manche Menschen kommen besser an die Kirschen am Baum, andere besser durch einen niedrigen Tunnel. Es gibt sogar Menschen, die von Natur aus besser Kinder gebären können als andere. Mit allgemeiner kultureller Leistungsfähigkeit hat das wenig zu tun. Körpermaße und Geschlecht sind nunmal bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich. Ich bin jedoch nicht der Meinung, dass das automatisch etwas mit der Bedeutung, der Wichtigkeit für die Gesellschaft zu tun hat. Und schon gar nicht glaube ich, dass manche Menschen weniger wert sind, als andere.

Ich bin kein Rassist

Zu meiner Beruhigung kann ich also festhalten: Ein Anhänger dieser „Lehre, Theorie“ von der in der ersten Definition die Rede ist, bin ich nicht. Insofern also auch, was die Definition des Dudens angeht, kein Rassist.
Aber es gibt da ja noch die zweite Definition. Es ist die Rede von einer „Einstellung, Denk- und Handlungsweise gegenüber Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen mit bestimmten biologischen Merkmalen“. Und wieder muss ich ehrlich zu mir selbst sein. Ja, einige meiner Gedanken entstanden vermutlich ausschließlich aufgrund biologischer Merkmale dieses Mannes dort auf der Straße. Und ja, vermutlich wären sie mir bei der Begegnung mit einem blonden, hellhäutigen und eher untersetzten Mittvierziger nicht gekommen. Aber warum eigentlich nicht? Hätte ich mir bei diesem Anblick dann gar nichts gedacht? Das vermutlich auch nicht. Aber was dann?

Das könnten einige Beispiele sein. Wahrscheinlich haben die Gedanken in solch einem Moment auch mit der Gegend zu tun, in der man anderen Menschen, ganz egal welchen, begegnet. Wäre ich nicht vor ein paar Wochen in Köln, sondern vor ein paar Tagen in Marseille gewesen, hätte ich einen dunkelhäutigen Menschen vielleicht für einen einheimischen, freundlichen Franzosen gehalten und einen blonden, untersetzten für einen britischen Hooligan. Und ist nicht ganz egal, ob nun der eine oder der andere Typ Mensch von mir eher als „Bedrohung“ oder wenigstens als „außergewöhnlich“, als „anders“ wahrgenommen wird? Ist nicht beides irgendwie rassistisch? Noch einmal zur Erinnerung: Laut Definition beinhaltet Rassismus eben nicht nur das Verhalten, sondern auch schon die Denkweise. Ich entscheide selbst, wie ich mich verhalte. Ich entscheide sogar selbst, ob ich die Gedanken, die mir unwillkürlich durch den Kopf schießen, weiterverfolge oder (vor mir selbst) für unsinnig, ja, für falsch erkläre. Aber sie sind da, das kann ich nicht leugnen. Insofern muss ich mir eingestehen, dass ich, zumindest laut Definition, nicht vollkommen frei bin von Rassismus. Und das wirft in mir die nächste Frage auf: Gilt das nur für mich selbst, oder nicht auch für sehr viele, wenn nicht gar alle Menschen?

Sind wir alle rassistisch?

Es gibt Menschen, die finden andere Menschen abstoßend, kulturell weniger leistungsfähig oder gar für die Gesellschaft weniger wert. Nicht nur in Gedanken, für die sie sich möglicherweise schämen. Sondern in ihrer ganzen Ideologie, die sich auch in ihrem Verhalten widerspiegelt. Das ist, sofern es sich auf biologische Merkmale bezieht, per Definition rassistisch. Soweit ist das noch einfach.
Nun gibt es aber eben auch diese negativ behafteten Gedanken und Gefühle, die ich zuvor schon beschrieben habe. Auch wenn man andere Menschen deswegen nicht gleich abstoßend oder minderwertig findet, bleibt die Sorge um die eigene Sicherheit ein negatives Gefühl! Und auch diese Gedanken und Gefühle beziehen sich auf biologische Merkmale. Und nicht immer sind diese auf den ersten Blick offensichtlich. Der Einfachheit halber schauen wir uns drei Beispiele an. Negative Gedanken anderen Menschen gegenüber können sich u.a. darauf beziehen, dass

  1. sie dick, dünn, groß, klein sind
  2. sie eine andere Hautfarbe haben, als man selbst
  3. sie schwul, lesbisch, bi- oder, vereinfacht gesagt, nicht heterosexuell sind

Jeder, der bei mindestens einem dieser drei Punkte eingestehen muss, auch selbst schon einmal negative Gedanken oder Gefühle gehabt zu haben, kann und sollte sich nun vermutlich genauso selbst hinterfragen, wie ich es getan habe. Womöglich werden einige nun sagen, die Hautfarbe sei ja offensichtlich etwas, das angeboren ist und wofür (oder auch -gegen) man nichts kann und deshalb als Kriterium für rassistische Gedanken eindeutig von den anderen zu unterscheiden. Doch war es ja gerade die Hautfarbe, die solche Gedanken in mir hervorgerufen hat. Nun gut, womöglich habe ich dann einfach wirklich rassistischere Gedanken als diejenigen, die nur bei den anderen Punkten aufgemerkt haben. Diese Sichtweise ist nicht nur sehr oberflächlich, sondern schlicht falsch. Denn auch Körpermaße und -masse können biologischen Ursprungs sein. Nicht (nur) bewusste Entscheidungen, sondern genetische Voraussetzungen oder auch Krankheiten können Gründe sein. Noch viel eindeutiger ist es im letzten Fall: Sexualität und sexuelle Identität sind genauso wenig eine Entscheidung, wie die Hautfarbe. Wenn man es auf die Spitze treibt, sogar noch weniger: Hautfarbe lässt sich, wenn auch sehr mühevoll, operativ ändern, wie das Beispiel Michael Jackson gezeigt hat. Und auch, wenn es immer noch Menschen gibt, die das nicht wahrhaben wollen: Schwulsein kann man weder heilen, noch wegoperieren. Der Aufschrei in der Community ist erwartungsgemäß und verständlicherweise nun groß. Die Forderung nach endgültiger Toleranz und Anerkennung erklingt an vielen Stellen. Die Forderung nach Solidarität! Natürlich ist das berechtigt. Aber muss ich mich mit diesen Opfern mehr solidarisieren, als mit anderen, weil sie zur LGBTI-Community gehören? Sind sie mir wichtiger als andere Menschen, die sterben mussten, nur weil sie ohne eigenes Verschulden in Palästina oder Syrien geboren wurden? Ist das nicht auch irgendwie rassistisch?

Trotzdem: Reicht es aus, negative Gedanken zu haben, um gleich rassistisch zu sein? Oder im Umkehrschluss: Wenn wir alle (in gewisser Hinsicht) rassistisch sind, warum ist das dann negativ? Rassistische Gedanken entstehen aus Vorurteilen und diese wiederum beispielsweise aus unserer Sozialisierung und unseren Erfahrungen. Aber ein Vorurteil allein macht einen Menschen nicht zum Massenmörder. Trotzdem sind in Orlando viele Menschen gestorben. Vermutlich weil ein Einzelner sie für homosexuell hielt. Und das wiederum für falsch. Ein in den USA geborener, nicht-religiöser Mensch, der, aus welchen Gründen auch immer, Schwule hasste. Und das hat rein gar nichts damit zu tun, das er einen arabisch klingenden Namen hatte. Noch so eine vorschnelle, weil einfache, Schlussfolgerung. Wenn ich die Ursachen für ein Problem einer Religion oder einer bereits als „böse“ anerkannten Strömung zuordnen kann, ist das natürlich viel bequemer, als einzugestehen, dass auch in meiner eigenen Gesellschaft, deren Freiheit ich zu verteidigen versuche, noch immer große Probleme herrschen. Da passt es einfach gut, wenn ein Täter einen Namen hat, der zu dieser einfachen „Lösung“ passt. Das ist rassistisch!

Stigmatisierung und der erste Stein

Immer wieder finde ich in Alltagssituationen und -reaktionen (ja, Anteilnahme und Empörung nach Massenmorden sind beinahe alltäglich! Wie furchtbar!) Anflüge von rassistischen Gedanken. Was ich (bisher) nicht finde, sind abschließende Antworten auf meine Fragen. Aber diese eine Situation in einer Kölner Seitenstraße hat mich verändert. Ich hinterfrage mich, mein Handeln und sogar meine Gedanken deutlich mehr als vorher. Und damit auch unsere Gesellschaft. Wo fangen Vorurteile an, wo hören sie auf? Wann ist ein Mensch rassistisch, wann ist er Rassist? Ist Rassismus womöglich sogar zu stigmatisiert? Ähnlich, wie es auch für andere Tabuthemen in unserer Gesellschaft gilt, könnte doch womöglich eine offene, ehrliche Diskussion helfen, sich mit Alltagsrassismus auseinander zu setzen, darüber aufzuklären und das Bewusstsein dafür zu schärfen, warum jemand nicht nur rassistisch denkt oder fühlt, sondern auch handelt. Gibt man in einer Diskussion ehrlich zu, auch schon einmal „Opfer“ seiner eigenen rassistischen Gedanken geworden zu sein, bekommt man meistens nicht mehr die Gelegenheit das auch genauer zu erklären. Ganz egal, was man von Religion im Allgemeinen und dem Christentum im Besonderen hält. In der Bibel steht ein Satz, der treffender nicht sein könnte:

Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!

Es ist wenig hilfreich, etwas pauschal zu verteufeln, nur weil man gelernt hat, dass man etwas nicht (mehr) soll oder darf – obwohl man sich eigentlich selbst nicht davon freisprechen kann, wenn man ehrlich zu sich selbst ist. Man kann eben nicht für Toleranz und Offenheit sein, wenn man Ansichten pauschal ablehnt und jemanden ausgrenzt, der sie offen anspricht. Genauso, wie der Anschlag von Orlando die Tat eines Einzelnen ist, genauso wie jeder Akt von Gewalt, an dem noch so viele Menschen beteiligt sind, immer die Summe von Einzeltaten ist, genauso ist jeder Einzelne gefragt, bei sich selbst anzufangen, um sie zu verhindern. Genauso ist jeder Einzelne in der Lage, sie zu verhindern.

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