Was wird aus diesen Kleidern, die von einer Ecke des Schranks in die andere wandernd ein eher trostloses Dasein fristen, weil sie zwar noch gut in Schuss, aber dennoch nicht mehr beachtet werden? Und was machen eigentlich Schaufensterpuppen nach dem Berufsleben? Es gibt eine Geschichte die eine Möglichkeit zeigt, die beiden gemeinsam wieder eine Bestimmung gibt. Antons Geschichte.
Alles begann damit, dass der Kurs der zukünftigen Veranstaltungskaufleute der Wirtschaftsakademie eine Weihnachtsfeier für die gesamte Belegschaft ausrichtete. „Red Light District“, Rotlichtbezirk lautete das Motto. Zugegeben, es verliert in der Übersetzung. Denn schließlich ist rot gar keine so seltene Farbe in der Vorweihnachtszeit und viele Räume, Plätze und Orte könnten als Distrikt mit rotem Licht bezeichnet werden. Unter Rotlichtbezirk verstehen die meisten freilich dann doch etwas weitaus weniger festliches und besinnliches. Die Kombination aus beidem zu einer rauschenden Party sollte der (Achtung, Wortspiel!) rote Faden der Veranstaltung werden. Also wurde viel rotes Licht angeschaltet, mit roten und weißen, reflektierenden Christbaumkugeln dekoriert und in einem bekannten Kölner Club eine verruchte aber doch irgendwie festliche Atmosphäre geschaffen. Ein Kursmitglied hatte aber eine Idee, das Ganze noch zu toppen. Einer Kaufhauskette wurden zwei Schaufensterpuppen abgeschwatzt. Keine dieser gesichts- und konturlosen, dem menschlichen Körper allenfalls ähnelnden Figuren, die immer mehr in Mode kommen. Nein, richtig menschlich aussehende Puppen, einem durchtrainierten, normalgroßen Mann nachempfunden. Diese wurden, eigens genähte Engelsflügel umgeschnallt und ein knappes Höschen angezogen, rechts und links auf dem vorderen Bühnenrand platziert. Ein toller Effekt. Und wieder eine Möglichkeit festlich und verrucht zu kombinieren. Die Party war ein voller Erfolg. Oder, um es mit den Worten eines der Dozenten der Akademie zu sagen: „Legendär.“
Puppen suchen ein Zuhause
Nach der Veranstaltung wurden sowohl von der Tombola übriggebliebene Preise, als auch alle nicht mehr benötigten Dekorationsgegenstände für einen guten Zweck verkauft. Zunächst wurden natürlich auch kursintern die Vorlieben geklärt und die von den Kursteilnehmern bevorzugten Dinge einfach gegen die Zahlung einer Spende verteilt. Unklar blieb, was mit den beiden Schaufensterpuppen geschehen sollte, die während der Weihnachtsferien im hauseigenen Keller eingelagert worden waren. Sachpreise und auch Weihnachtsdekoration finden selbstverständlich recht schnell Abnehmer, aber wer braucht schon eine lebensgroße Puppe zuhause?* Andererseits, wer hat schon seine eigene Schaufensterpuppe? Genau das erschien mir damals eine gute Idee. Auch beruflich, als Veranstaltungskaufmann in Ausbildung und mit einigen selbst durchgeführten Events, konnte ich mir vorstellen Verwendung für so etwas zu finden. Also bekam die WG, in der ich damals** wohnte, einen neuen Mitbewohner.
Erst einige Monate später, inzwischen nicht mehr in derselben WG, sondern einer Wohnung mit nur noch einem menschlichen und einem anthrazitfarbenen Kunststoff-Bewohner, bekam der attraktive und mal aufreizend, mal schick, aber immer dem Anlass und der Jahreszeit entsprechend gekleidete Mann auch einen Namen. Mehr so aus einer Laune heraus, auf die Frage, wie denn der Mitbewohner heiße. So mit einem halbherzigen Abwinken und Schulterzucken in einem. „Was weiß ich? Anton.“
Anton sorgte im Laufe der Jahre für Begeisterung, Erstaunen und nicht selten auch Erschrecken bei Besuchern, die einfach nicht mit einer lebensgroßen Puppe hinter der nächsten Tür rechneten. Doch irgendwann stand ein größerer Umzug vor der Tür. Nicht innerhalb der Stadt, nicht einmal innerhalb des Landes. Es ging von Köln nach Berlin und jeder Zentimeter Stauraum wollte gut geplant sein. Und so kam es, dass Anton den Sprung in die Hauptstadt nicht mitmachte.
Auf den Brettern, die die Welt bedeuten
Schon zuvor war er, wenn es das Motto des Abends erforderte, als Gast auf der ältesten freien Bühne Kölns im Einsatz gewesen. Als Dekoration zunächst, irgendwann aber auch, mehr oder weniger freiwillig, als Bestandteil der Show. So eine Puppe ist eben ein idealer Partner ideales Opfer für allerlei Bühnenpersönlichkeiten. Ganz egal ob als Tanzpartner, männlicher Part einer herzzerreißenden Kuss-Szene oder auch mal als passiver Teil auf der Bühne praktizierter Fesselspiele. Die zunehmende Erfahrung und seine außergewöhnliche Wandlungsfähigkeit machten Anton bei Publikum und Darstellern gleichermaßen beliebt. Als die Zeit des Abschied näher rückte, lag deshalb die Überlegung nicht fern, aus dem Gastdarsteller einen festen Bestandteil des Theaterensembles zu machen. Und so zog Anton aus der Zweisamkeit der wohnlichen Männer-WG in eine zuweilen aufregende und hektische, an Spieltagen laute und schrille, aber unter der Woche doch recht trostlose neue Heimat. Seine neuen Mitbewohner waren, abgesehen von den einmal wöchentlich einfallen Scharen an Künstlern und Besuchern, ebenso wenig lebendig wie er selbst. Aber Anton erweiterte sein Repertoire an Fähigkeiten, seine Bühnenauftritte häuften sich. Nachdem er die meiste Zeit seines Lebens im Scheinwerferlicht und dem Mittelpunkt des Interesses seiner Betrachter verbracht hatte, war er endlich zurück aus dem Ruhestand in einsamer Zweisamkeit.
Doch irgendwann verging auch seine glanzvolle Theaterzeit und er wurde, was viele an Kleinkunst-Theatern etablierte Künstler werden. Von etwas Besonderem, Neuem zu einem festen Bestandteil und damit Normalität. Entsprechend ging auch die Aufmerksamkeit seiner Kollegen zurück. Behandelte man ihn am Anfang noch wie ein rohes Ei, kam es immer häufiger zu unsanften Aufräumaktionen. Eines Tages kam es, wie es kommen musste. Hektische Betriebsamkeit allenthalben, Techniker und Künstler laufen durcheinander, das Bühnenbild muss fertig und die Kostüme müssen angezogen werden. Und ehe man es sich versieht, stößt man unsanft mit diesem großen, dunklen Kerl zusammen, den man in der Ecke fast übersehen hätte. Es gibt ein lautes Poltern, als die schwere Figur nach kurzem Wanken schließlich auf die Bühnenbretter fällt. Gefolgt von einem hässlichen Knacken.
Seitdem fehlt Anton ein Finger seiner rechten Hand. Der Anfang vom Ende seiner strahlenden Bühnenkarriere.
Zurück zur Bestimmung
Es verging noch etwa ein Jahr in den Hallen des Kellertheaters, in denen Anton immer weniger Auftritte hatte und seine Wichtigkeit und Bedeutung rapide abnahm. Irgendwann kam man zu dem Entschluss, „diese alte Schaufensterpuppe“ sei inzwischen mehr Belastung als Nutzen, schließlich brauchte man Platz für neue Technik, zum Schminken und eben neue, aufregendere Elemente des Bühnenbildes. Und so wurde Anton vom Star zum Problem, er brauchte dringend ein neues Zuhause um nicht endgültig am Ende seiner Laufbahn angelangt zu sein.
Und so kehrte Anton zu mir zurück. Er fand wieder seinen Platz im Wohnzimmer, war wieder attraktiv und stets passend gekleidet. Manchmal, zu den seltenen Anlässen im Jahr, an denen es etwas zu feiern gibt und viele Menschen in sein Zuhause strömen, ist er so Wegweiser vor dem Haus oder Bewacher von Türen, durch die kein Besucher gehen soll. Doch letzte Woche kam dann sein großer Augenblick. Endlich konnte er nach all den Jahren einmal wieder das tun, wofür er geboren wurde.
Jeder kennt das. Man hat Kleidungsstücke, die man nicht benötigt. Sie sehen gut aus, sind zum Teil vielleicht sogar topmodern, aber passen einfach nicht. Oder man hat sie jahrelang wirklich gern und häufig getragen, aber sie sind inzwischen einfach nicht mehr dem eigenen Stil entsprechend. Sie wandern von einer Ecke des Schranks in die nächste, bei jeder Gelegenheit zu der man alte, hässliche und nicht mehr zu gebrauchende Kleider aussortiert. Aber so richtig von diesen Sachen trennen, mag man sich nicht. Schon gar nicht entsorgen will man sie. Selbst wenn das T-Shirt schon ein bisschen verwaschen ist und die Jeans doch schon inzwischen mehr Löcher hat, als beim Kauf. Schließlich hängen Erinnerungen daran, oder sie sind schlichtweg wirklich zu schade, zu wertvoll für den Müll.
Ein immer beliebter werdendes Webfundstück hat genau dafür die optimale Lösung gefunden. Hier werden Kleider von einem Besitzer an den nächsten weiter gegeben. Das beginnt bei Schuhen, geht über Ballkleider und Fracks, Hosen, Hemden und Pullover bis hin zu kleinen Accessoires, die das Outfit abrunden. Mit jedem Stück, das man erwirbt, holt man sich auch ein kleines Stück Geschichte nach Hause. Jedes dieser Kleidungsstücke hat einen emotionalen Wert, den kein neues, im Laden erworbenes besitzen kann. Und umgekehrt gibt man seine eigenen, mit Geschichten und Emotionen bestückten Kleider in liebevolle Hände, die ihre Geschichte weiterführen. Die Kleider kreiseln also weiter.***
Aber natürlich kauft auch hier nicht jeder alles. Die Kleider wollen ordentlich präsentiert werden, gerade weil sie eben gebraucht und getragen wurden und nicht immer zu 100% dem Zustand entsprechen, in dem man sie im Laden bekommt. Und konnte Anton wieder einmal im Mittelpunkt stehen. Zahlreiche Hemden, T-Shirts, Jacken hat er angezogen, sich positioniert und sie von ihrer absolut besten Seite gezeigt.
Zu verdanken haben Anton und die Kleider diese Präsentationsmöglichkeit sicher in erster Linie dieser Website. Und ob Kommilitonen, Freunde, Nachbarn oder Familienmitglieder, überall gibt es Menschen, die sie kennen und/oder nutzen. Nicht alle regelmäßig und mancher auch nur ein einziges Mal um etwas zu (ver)kaufen. Doch längst ist der Kleiderkreisel kein Geheimtipp mehr. Hochwertige, oder zum Teil mit einer Geschichte verbundene Kleider zu bekommen und dafür nur einen Bruchteil des Neupreises zahlen zu müssen ist genau so lukrativ, wie für die eigenen noch ein bisschen Geld zu bekommen. Und fürs Gewissen ist es auch nicht schlecht: Man produziert weniger Müll und gibt vielleicht eben diese fünf Euro weniger aus, für Kleider, die in Entwicklungsländern produziert wurden, weil man sich teure Neuware eben einfach nicht leisten kann.
Ähnlich wie bei einer großen und bekannten allgemeinen Tauschbucht hat man auch hier die Möglichkeit, die Vorbesitzer, die Kleider und die gesamte Abwicklung des Kreiselns zu bewerten und eine Beurteilung zu schreiben. Von meinen Käufen bin ich bisher jedenfalls nicht enttäuscht worden. Also kreisele ich nun selbst. Und dank Anton finden vielleicht auch meine Kleider bald ein neues Zuhause.
>> Mein Profil bei Kleiderkreisel
Finding flourishing clothes. Kleider mit Geschichte finden.
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*Vor allem eine, aus der man nicht die Luft rauslassen kann, um sie platzsparend zu verstauen.
** Unsere Geschichte nimmt ihren Anfang im Jahr 2008.
*** Deshalb auch der Name der Website: Kleiderkreisel
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