Ja, die Europawahl ist so etwas wie das hässliche Entlein unter allen Wahlen, die wir hierzulande normalerweise so abhalten. Mit dem Unterschied, dass es sich auch durch noch so gut gemeinte Veränderungen (Spitzenkandidatur für den Kommissionsvorsitz) bislang partout nicht in einen Schwan verwandeln will. Europa ist abstrakt, weit weg, unbeliebt. Wodurch genau soll sich das jetzt ändern?
Katarina Barley ist bekannt, beliebt und gilt als kompetent. Aber reicht das? Es gibt Stimmen, für die das sogar das stärkste Argument gegen ihre Nominierung zur Spitzenkandidatin ist. Warum schiebt man eine der fähigsten Personen der aktuellen Regierung nun nach Europa ab. Denn – so viel steht wohl fest – für ein Mandat wird es durch die Spitzenkandidatur reichen. Aber wird Katarina Barley wirklich abgeschoben? Oder doch befördert?
Anders als bei gewissen Verfassungsschutzpräsidenten in der Vergangenheit ist für die Bevölkerung eine derartige Versetzung nicht sofort als Beförderung zu erkennen. Dabei könnte man ein Mandat im EU-Parlament durchaus als noch höheren Dienst am eigenen Land betrachten, als die Leitung eines Ministeriums. Wenn man die Gemeinschaft und den Zusammenhalt Europas zum Ziel hat – und Deutschlands Rolle dabei. Ja, klar, ein fähiges Mitglied der Regierung verlässt diese. Doch das kann man aus Sicht der SPD auch als Vorteil sehen: Wenn man nämlich zu dem Schluss kommt, dass diese Regierung sowieso nichts taugt und man die fähigsten Leute deshalb besser nicht dort verbrennt.
Dagegen spricht vor allem, das neben Katarina Barley noch ein zweiter Spitzenkandidat gewählt wurde. Das wirft zumindest Fragen auf, schließlich kennt man solche Spitzenduos zwar von den Grünen, nicht aber von der SPD. Warum also wird ausgerechnet jetzt, wo man eine Frau an die Spitze stellt, ihr ein – noch dazu hierzulande doch weitestegehend unbekannter – Mann an die Seite gestellt? Zufall?
Udo Bullmann (der Spitzenkandidat, Anm. d. Autors) ist, ohne dass er freilich etwas dafür kann, alt (bei allem Respekt!), weiß und ein Mann. Das ist jetzt nicht grundsätzlich schlecht. Aber nach Erneuerung sieht es nun auch nicht gerade aus, wenn man ausgerechnet dann so jemanden an die Spitze der Liste stellt, wenn diese von einer verhältnismäßig jungen Frau angeführt wird. Klar, irgendjemand muss natürlich auf Platz zwei der Liste stehen. Einige Kommunikation aus der SPD wirkte aber gestern eher wie „Spitzenduo“ als wie „Spitzenkandidatin“. Wie die Partei das fortsetzt wird ein entscheidender Faktor für den Wahlausgang sein.
Insbesondere in den Regierungen unter Angela Merkel konnte der Eindruck entstehen, das EU-Parlament sei eine Art Auffangbecken für ungeliebte Ministerpräsidenten. „Wir schicken die nach Brüssel, da können sie nicht viel kaputt machen!“ Die wirklich wichtigen Dinge in Europa regelt ja sowieso die Bundesregierung bzw. die Kanzlerin höchstpersönlich selbst. Europa, die EU hat bei der eigenen Bevölkerung keinen guten Ruf. Das zeigt nicht nur der Brexit, auch in Deutschland, wo die Politikverdrossenheit in Sachen nationaler Wahlen den Zenit endlich überschritten zu haben scheint, ist Europa weiterhin eher kalte Asche als feurige Leidenschaft.
Doch was war das für eine Wahl bei der SPD! Und was für ein Auftritt von Katarina Barley! Die Leidenschaft kommt sofort rüber, ihre ganz persönliche Geschichte macht ihre Verbundenheit und Liebe zu Europa glaubwürdig. Sie ist, unabhängig von ihrem jetzigen Amt, auch inhaltlich die perfekte Spitzenkandidatin für ihre Partei. Diese Leidenschaft, Überzeugung und Liebe für Europa muss jetzt auch bei den Menschen ankommen!
Katarina Barley ist nicht Martin Schulz. Auf den ersten Blick ergeben sich einige Parallelen, nicht zuletzt das überragende Ergebnis von 99% bei der Wahl, das an die 100% von Schulz damals bei der Wahl zum Parteivorsitzenden erinnert. Der Ausgang ist bekannt. Die SPD darf jetzt nicht dieselben Fehler machen, wie im Wahlkampf der Bundestagswahl. Das schadet nicht nur der Partei, sondern auch der Regierung (und somit dem Land) und letzten Endes wohl auch der Europäischen Union.
Doch sind auch deutliche Unterschiede zur damaligen Situation zu erkennen, die Mut machen, dass wir vielleicht den spannendsten und besten Europawahlkampf aller Zeiten erleben werden – und der letzte (übrigens auch mit Martin Schulz) war schon gar nicht so schlecht, wie es manche wohl in Erinnerung zu haben glauben. Die gesamte Situation rund um die Wahl, die Kandidatin und die Partei kommt nicht so fantastisch daher, wie damals. Man ist gelöst, optimistisch und begeistert, aber auf eine sehr viel bodenständigere Art. Damit ist nicht die Kandidatin gemeint (viel bodenständiger als Schulz ging es wohl kaum), sondern viel mehr das Programm, die Vision von Europa, die eben nicht nur mit Fantasie, sondern auch mit Realismus gestrickt zu sein scheint.
Europa ist typisch SPD. Martin Schulz war Präsident des Parlaments und ist international als der „glühende Europäer“ bekannt und geschätzt, als den er sich selbst bezeichnet. Dagegen sieht selbst die „Mutter der freien Welt“ ein wenig blass aus. Und dennoch verlor Schulz die damalige Wahl gegen den konservativen Kandidaten und jetzigen Kommissionspräsidenten Juncker. Der kommt aber bekanntermaßen nicht aus Deutschland. Die CDU aber war in den letzten Wochen und Monaten ausschließlich mit sich selbst beschäftigt.
Dabei ging es um Fragen, die nur sehr theoretisch und insbesondere in fernerer Zukunft als die Europawahl auch über die Partei hinaus von politischer Bedeutung werden könnten. Wen die CDU ins Rennen um Europa schickt, war bisher gar kein Thema. Und damit nicht genug: Just an dem Wochenende als die CDU über den Parteivorsitz entscheidet, präsentiert sich die SPD in einem Thema, das nicht nur die Partei selbst betrifft (oder betreffen sollte) gut aufgestellt. Die Botschaft ist klar: „Wir haben intern aufgeräumt und die Prioritäten sind klar gesetzt.“ Überspitzt gesagt, wären die wichtigen Themen der Parteien im Hinblick auf das anstehende Jahr wie folgt verteilt: CDU: CDU, SPD: Europa.
Diese Vorgehensweise zeigt auch, dass die SPD weiß, was die Stunde geschlagen hat. Ruhige, solide Arbeit auf bundespolitischer Ebene hat schon in den beiden vorigen großen Koalitionen unter Merkel nicht geholfen, die Partei aus dem Umfragetief zu hieven. Da kommt die Profilierung als „Europapartei“ gerade recht. Auch weil der große Auftritt der neuen Spitzenkandidatin sogar die Grünen, die den Platz der SPD in den Umfragen immer mehr einzunehmen scheinen, unter Zugzwang setzt, ganz ohne sie gleich wieder zu kritisieren oder zwanghaft Unterschiede zu suchen. Eine inhaltliche Abgrenzung muss nun nicht die SPD vornehmen, sie hat vorgelegt.
Lernen die Sozialdemokraten aus den Fehlern der (jüngeren) Vergangenheit, ist Europa zwar ihre letzte, aber zugleich größte Chance. Macht den Menschen Lust auf Europa! Zeigt ihnen, dass es mehr ist, als Brexit, Merkel, Zuwanderung und Währungsunion. Europa ist Frieden. Europa ist Heimat. Europa sind wir alle. Und die SPD kann mit Stolz zurückblicken auf den Teil, den sie dazu beigetragen hat. Wenn es ihr gelingt, die Bevölkerung daran zu erinnern, sie mitzureißen mit der Leidenschaft, die ihre Spitzenkandidatin ausstrahlt, dann kann es bald weitergehen in der Reihe großer, deutscher, europäischer Sozialdemokraten: Ebert, Brandt, Schmidt, Rau, Schulz, Barley…
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