Ich habe keine Ahnung von Anorexie. Gehört hatte ich den Begriff schon, klar, aber so richtig einordnen konnte ich ihn nicht mal. Anorexie, oder, fachlich richtig ausgedrückt, Anorexia nervosa, ist Magersucht. Dieses, und noch mehr Wissen, habe ich vier meiner Kommilitoninnen im Studiengang Online-Redakteur zu verdanken. Ich hatte selbst schon Berührungspunkte damit, vor einigen Jahren lernte ich Menschen kennen, die an Magersucht und deren Folgen litten und verfolgte ihren Weg, ihre Krankheit und den Umgang damit hautnah. Dank meiner Kommilitoninnen kenne ich nun auch eine gute Plattform im Web zu diesem Thema.
Interessanterweise entdeckten sie die Website nicht durch die Diskussion über und die Arbeit mit journalistisch inhaltlichen Themen, sondern weil wir uns mit multimedialer Darstellung beschäftigten.
Dass ein Thema wie Magersucht, oft negativ behaftet, eben auch in einem nicht sensationsheischenden und dennoch hochwertig aufbereiteten Kontext dargestellt werden kann, zeigt sich auf dieser Website. Sie ist für ihre Gründerin, Nora Burgard-Arp, eine Herzensangelegenheit.
„Auf der einen Seite erlebt das extrem dünne Schönheitsideal zurzeit ein Comeback, auf der anderen Seite wird Magersucht oft als ‚Marotte‘ der Stars und Sternchen wahrgenommen. Das Projekt „Anorexie – heute sind doch alle magersüchtig“ soll eine Gegenbewegung zum aktuellen Trend der Berichterstattung sein und die wissenschaftliche Sichtweise auf die Krankheit in den Vordergrund stellen,“ beschreibt sie ihr Projekt auf der Website.
Sowohl inhaltlich als auch was die Dartsellungsformen angeht, punktet die Webpräsenz mit Unterschiedlichkeit und Abwechslung. Es werden verschiedene Aspekte und Sichtweisen beleuchtet, sowohl ärztliche Statements als auch Erfahrungsberichte von Betroffenen werden dargestellt. In Text, Ton und Bild. Denn die Titelbilder der einzelnen Beiträge sind alle unterschiedlich, aber stilistisch eng miteinander verknüpft. Auf den zweiten Blick auch inhaltlich. Sie sollen zeigen, wie der Inhalt eines Tages für Magersüchtige aussieht. Da sind dann eine Schale Suppe und ein paar Kaugummis zu sehen. Oder ein Teddybär neben Maßband und Rasierklinge.
Dass die Bilder oft mehr Fragen aufwerfen als beantworten, verstärkt die Neugier auf die Inhalte der Texte. Die Interviews, Chatverläufe, Berichte aber auch tagebuchartig aufbereitete Schilderungen von Erkrankten sind inhaltlich natürlich nicht weit voneinander entfernt, aber auch stilistisch haben alle ihren Wiedererkennungswert.
Und je weiter und tiefer man in die Welt der Anorexie vordringt, denn nichts anderes passiert auf dieser Website, desto mehr wird einem bewusst, dass dieses Thema weit mehr ist, als ein Phänomen der Reichen und Schönen und derer, die ihnen nacheifern wollen. Ich selbst habe Magersüchtige kennengelernt und mitbekommen, dass diese Krankheit nicht in erster Linie mit Essen zu tun hat, sondern eine Lebensbedrohung ist, die im Kopf entsteht, sich dort einnistet und nicht ohne eine starke Energieleistung wieder abzuwenden ist.
Gestalterisch, inhaltlich und multimedial ist Nora Burgard-Arps Projekt ein gelungenes Beispiel dafür, was deutscher Online-Journalismus kann. Und damit auf allen diesen verschiedenen Ebenen ein Vorbild für jemanden, der erst noch ein ganzer Online-Redakteur werden will. Per Mausklick findet man die Autorin und ihr Projekt in Social-Media Kanälen. Genauso bekommt man auch einen Überblick, wo und wieviel in sozialen Medien über das Projekt geschrieben wird. In den letzten Wochen nur traurige zwei Mal. Das Projekt hat mehr verdient. Klar, es ist nachvollziehbar, dass die (sozialen) Medien sich auf Themen wie Mittelfinger (oder auch nicht) von Politikern konzentrieren und psychische Erkrankungen, die zu Flugzeugabstürzen führen, spannender ausgestalten können. Auch und gerade Massenmedien brauchen vor allem eine breite Öffentlichkeit, die sich mit reißerischen Überschriften nun mal besser erreichen lässt. „‚Extrem dünn: Die Promi-Damen im Magerwahn‘, ‚Herzogin Kate: Treibt der Druck auch sie in die Magersucht?‘ Schlagzeilen wie diese machen mich wütend,“ schreibt Burgard-Arp gleich im Einleitungsteil.
Anorexie ist ein trauriges, aber medizinisch komplexes Thema, dass nicht ohne große Mühe auch interessant für eine breite Masse wird. Und diese Mühe macht sich Burgard-Arp. Umso mehr verdient ihr Projekt Aufmerksamkeit, auf der Website selbst, aber auch in den Social Media Kanälen, ohne dabei polemisch zu werden oder ein sensibles Thema zu sehr aufzubauschen.
Meine Empfehlung: Reinschauen, staunen und nachdenken. Und diese Erfahrung mit anderen teilen!