Oft habe ich ein schlechtes Gewissen wegen mancher Momente, in denen ich bin, wie ich bin.
Ich bin ein Genießer, ein Familienmensch und heimatverbunden. Immer wieder gibt es deshalb Tage, an deren Ende ich einerseits das Gefühl habe, dass sie ausgefüllt, ja, erfüllt waren mit allen möglichen kleinen und großen Dingen und andererseits das, nicht wirklich etwas geschafft zu haben, vorangekommen zu sein mit, ja, was eigentlich? Dem Leben – das wäre jetzt wohl meine Standardantwort auf diese Frage. Aber was heißt denn „mit dem Leben vorankommen“? Arbeiten, Bewerbungen schreiben, Rechnungen bezahlen oder zumindest dafür sorgen, dass man es kann? Das kann ja wohl nicht alles sein! Speziell in Wochen, in denen Familienfeiern wie Geburtstage, Verabredungen mit Freunden zum Essen, Spazieren oder zum Sport und darüber hinaus vielleicht noch einige spannende berufliche Herausforderungen anstehen, habe ich oft das Gefühl, in verhältnismäßig viel Zeit verhältnismäßig wenige verschiedene Dinge zu tun, obwohl ich quasi durchgängig beschäftigt bin.Schon als Kind hörte ich diesen Leitsatz oft. Mittlerweile verwende ich ihn selbst immer häufiger. Für mich selbst – aber auch für andere. „Dafür habe ich keine Zeit“ ist eben einfach nicht wahr. Eigentlich ist es immer eher: „Dafür nehme ich mir keine Zeit.“ Das klingt jetzt philosophischer als ich eigentlich werden will. Außerdem wurde dieses Thema wirklich oft und ausführlich genug beleuchtet. Und wenn meine Eltern, Lehrer oder gut meinende Freunde und Ratgeber vermutlich meinten, dass mein Hauptaugenmerk auf dem beruflichen Weiterkommen, der Lebensplanung und deren Umsetzung liegen sollte, dann meine ich mit den angesprochenen Prioritäten vielleicht nicht ganz dasselbe. Wenn mir jemand absagt, weil man „es einfach heute nicht schafft“ akzeptiere ich das immer genau so, wie wenn mir jemand absagt, weil „mir einfach heute nicht danach ist“.
Was soll ich denn erwarten? Dass mich jemand trifft, obwohl er eigentlich viel lieber einfach nur auf der Couch sitzen und sich von was auch immer erholen oder Energie für das sammeln möchte, das sein Leben gerade bereit hält? Dass jemand mir vorspielt, gern Zeit mit mir verbringen zu wollen, obwohl es eigentlich gerade überhaupt nicht in den Terminkalender passt? Ja. Manchmal tut das einfach gut. Dieses Gefühl, an erster Stelle zu stehen. Dass jemand nichts, aber auch wirklich gar nichts anderes lieber machen möchte, als Zeit mit mir zu verbringen. Dass ich Priorität genieße. Aber doch nicht immer und schon gar nicht um jeden Preis.
Auch wenn ich mir sicher bin, dass es sogar eine ganze Menge schlimmeres gibt, kann ich dem Urheber dieses Grundsatzes nur beipflichten. Es liegt an mir selbst, dafür zu sorgen, dass meine Freizeitgestaltung nicht in Stress ausartet. Dass sie kompatibel ist mit dem, was ich mache um meinen Lebensunterhalt verdiene. Dass mein Freundeskreis ein Wohlfühl- und kein Stressfaktor ist. Klar, wenn ich jeden Tag immer nur auf der Couch sitze, hat sich das mit dem Freundeskreis irgendwann auch erledigt. Und klar, auch der Lebensunterhalt verdient sich nur in den seltensten Fällen ganz bequem vom Sofa aus. Aber was nützt es mir, jeden Tag 12 und mehr Stunden gewissenhaft damit zu verbringen „weiterzukommen“, wenn ich dabei vergesse, auch die Energie dafür zu tanken? Manchmal muss man eben einfach einen ganzen Tag nur auf dem Sofa sitzen. Manchmal fährt man eben insgesamt drei Stunden durch die Gegend, nur um anschließend im Kreis der Liebsten nichts weiter zu tun als zu Reden, zu Essen und zu Trinken. Und wenn davon mehreres in einer Woche zusammen kommt, stehe ich eben oft an deren Ende da, blicke zurück und spüre einen Anflug von schlechtem Gewissen. „Wieder nichts geschafft!“ Und auch, wenn ich mir inzwischen immer einreden kann, dass all diese Dinge eben genauso zum „Vorankommen“ dazu gehören, flackert dieser Gedanke dann bei der nächsten Gelegenheit, die Arbeit einmal ruhen zu lassen, wieder auf.
Ganz ohne Anspielung auf irgendwelche Songtexte (ich entschuldige mich an dieser Stelle für etwaige Ohrwürmer) schießen mir anschließend aber immer häufiger diese Worte durch den Kopf. Wenn ich Spaß an meinem Lebensplan, meiner Arbeit und den kleinen Erledigungen des Alltags habe (und das habe ich), darf ich auf das Signal meines Körpers, meiner Seele, meines Gefühls – oder auch einfach der Menschen, denen ich wichtig bin – hören, und alles das für einen Moment aus meinem Kopf, meinen Plänen, ja sogar aus meiner ganzen Welt verbannen und einfach nur den Moment genießen. Die Akkus aufladen, Kraft tanken und eben das machen, wofür ich diesen ganzen Bums sonst immer auf mich nehme: Leben!
Den ganzen Tag nur mit tollen Menschen durch die Stadt laufen. Gleich mehrere Filme am Stück ansehen. Stundenlang Musik hören. Bis mittags schlafen, albern sein, Momente kreieren, die die Öffentlichkeit niemals erfahren darf.
Klar, genauso wie ich mich dazu zwingen muss, alles loszulassen – ohne ein schlechtes Gewissen, muss ich mich danach zuweilen zwingen, zurück zu kehren zu dem, was ich eine Zeit lang losgelassen hatte. Und klar, manchmal holt mich das schlechte Gewissen dann irgendwann doch ein, weil ich hier einem lieben Menschen einmal zu oft abgesagt hatte und da vielleicht doch etwas mehr hätte arbeiten können. Aber was bleibt, ist die Kraft aus den Erinnerungen an diese schönen, losgelösten Momente. Und der Preis dafür wäre niemals hoch genug.
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