Seid ihr auch alle da?

Abgesang auf ein Auslaufmodell

Heute bin ich mal mutig. Ich kritisiere das System. Und zwar nicht irgendeins. Gewissermaßen ist das hier ein Plädoyer gegen meine eigene (übrigens hervorragende) Ausbildung. Ich kritsiere meinen eigenen Studiengang!

Als Online-Redakteur hat man mit diversen Problemen und Problemchen der großen, weiten Online-Welt zu kämpfen. Manchmal aber auch mit völlig unnötigen, nutzlosen und konstruierten Offline-Hindernissen. Jeder, der sich in den unendlichen Weiten des WWW bewegt darf sich Online-Redakteur nennen (eigentlich sogar jeder, der sich überhaupt nicht darin auskennt). Es ist kein geschützter Begriff.

Wording ist alles

Und dennoch gibt es diesen, mehr oder weniger, elitären Kreis derer, die mehr wollen, als ausprobieren, wie OR geht. Diejenigen studieren dann Online-Redakteur an der Technischen Hochschule Köln. Hier lernt man nicht nur die vielen unterschiedlichen Teilbereiche des Jobs kennen, angeleitet von absoluten Fachleuten und Koryphäen, sondern auch den ganz normalen Wahnsinn des deutschen Hochschulsystems.

Es fängt ja schon beim Namen an: Online-Redakteur. Was soll denn das für ein Studiengang sein? Andere Leute studieren ja auch nicht Architekt, Volkswirt oder, was durchaus gewisse Artverwandtschaft aufweist, Journalist. Mal völlig außen vor gelassen, dass alle weiblichen Studierenden bei der Namensgebung für den Studiengang einfach mal komplett ignoriert wurden. Wäre es wirklich so kompliziert gewesen, das Ding „Online-Redaktion“ zu nennen?* Aber auch sonst gibt es neben wirklich (im wahrsten Sinne des Wortes) ausgezeichneten Inhalten, gerade was Modernität, Innovation und praktische Anwendungen angeht, Fallstricke und Hindernisse, deren Sinn und Nutzen mir bisher weder ein Dozent begründen konnte und die genau entgegen der Ausrichtung und des Selbstverständnisses dieses Studiengangs wirken. Besonders angetan hat es mir, schon von Beginn des Studiums an, die sogenannte „Teilnahmepflicht“.

Kreativität? Nein, Danke!

Warum ich dann gerade jetzt darüber schreibe? Auslöser ist die Ansetzung von zwei Blockveranstaltungen zu Beginn des Praxissemesters. Beide zusammen dauern ungefähr fünf volle Tage, also eine Studienwoche. Da im festgelegten Studienverlaufsplan in diesem Semester ein Praktikum vorgesehen ist, sind viele Studierende schon zu Beginn der Semesterferien an den Arbeitsort gezogen (Köln ist teuer) und haben womöglich auch schon mit ihren Praktika begonnen (der Arbeitsmarkt interessiert sich eben sehr wenig für Hochschul-Stundenpläne). Klar, dass diese Kurse stattfinden, war jedem bewusst, auch, wie viele Stunden sie etwa dauern.

Etwas ungeschickt von den Organisatoren ist vielleicht, sie nun auf jeweils drei Tage vor und nach Ostern zu verteilen. Sodass die Studierenden nicht nur über Ostern nicht länger wegfahren können (okay, persönliches Pech), sondern eben auch noch für zwei Wochen wieder am Studienort unterkommen müssen, statt wie geplant (und möglich) nur eine. Na ja, manch jemand wird sagen, dann holt man die Kurse eben einfach im nächsten Semester nach, erkundigt sich bei Anwesenden über Inhalte und schreibt die Prüfung so, oder findet sonst eine kreative Lösung. Nicht so im Studiengang Online-Redakteur.

Innovativität? Nein, Danke!

Damit niemand auf die Idee kommt, es sei möglich, den Studiengang so innovativ zu gestalten wie seine Inhalte, werden wir auch alle noch einmal eindringlich daran erinnert, auf jeden Fall vor Ort zu sein. Da ist sie wieder, die sogenannte „Teilnahmepflicht“. Ganz offiziell wird mir noch vor der Aufnahme des Studiums bei der Einschreibung klargemacht: „Hier müssen Sie jeden Tag da sein, alle Lehrveranstaltungen sind teilnahmepflichtig.“

Grund dafür ist, dass ich weiterhin parallel „Mehrsprachige Kommunikation“ belegen möchte.  Zum einen wegen meiner Affinität zu Sprachen, zum anderen weil ich diesen Studiengang schon begonnen habe. So weit, so schön denke ich. Ich lerne Online-Redakteur, teilnehmen kann ich also wohl auch via PC. Ein Trugschluss, wie sich schnell herausstellt. Denn es herrscht eben keinesfalls Teilnahmepflicht sondern vielmehr Anwesenheitspflicht. Anders als in meinem zweiten Studiengang, den ich immerhin noch zwei Semester parallel belege und absolviere. Dann gebe ich ihn aus genau diesem Grund auf.

Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?

Doch auch die Anwesenheitspflicht gilt erstmal nur offiziell. In vielen Kursen scheren sich die Dozenten wenig darum, welche und wie viele Studierende vor Ort sind. Das Paradebeispiel bilden dabei ausgerechnet die theoretischsten Kurse, deren Inhalte in Büchern nachzulesen sind.

„Mir ist egal, ob Sie hier sind, oder nicht. Es gibt eine Zwischenaufgabe, die müssen Sie machen. Dann werden Sie zur Klausur zugelassen. Die müssen Sie bestehen. Wie Sie an das Wissen dafür kommen, ist ja Ihre Sache. Wenn Sie hier sind, kann ich Ihnen Fragen beantworten und einige Dinge vorstellen. Aber Sie müssen ja selbst wissen, ob Sie das brauchen oder nicht!“

Zusammengefasst: Wir sind hier nicht in der Schule! Alle eingeschriebenen Studierenden haben sich bewusst für diesen Studiengang entschieden, sind freiwillig hier und zahlen Semesterbeiträge dafür, dass ihnen Wissen und Erfahrung vermittelt werden.

Natürlich brauchen Dozenten eine Handhabe, um entscheiden zu können, ob Studierende in der Lage sind, die vermittelten Inhalte auch anzuwenden. Dafür gibt es Prüfungen. Das können die obligatorischen benoteten Prüfungen sein, Zulassungsprüfungen zu diesen oder auch einfache Zwischenaufgaben. Zum Teil auch meinetwegen Zusatzaufgaben für diejenigen, die einen (zu) großen Teil der Veranstaltungen verpasst haben. Es soll sogar Dozenten geben, die an das Ende jeder(!) ihrer Veranstaltungen eine Aufgabe setzen, die mit Namen versehen, abgegeben werden muss. Das gewährleistet nicht nur Anwesenheit, sondern auch Teilnahme. Eine Pflicht auszusprechen ist dann gar nicht nötig, man kann die Vollständigkeit der Aufgaben zur Zulassungsvoraussetzung für die Abschlussprüfung machen – fertig. Kein nerviges Kontrollieren der Anwesenheit, keine handgeschriebenen, dahingeklatschten Notizzettel als Anwesenheitslisten mehr. Die sind nicht mal an noch so verstaubten staatlichen Universitäten mehr zeitgemäß. Sondern schlichtweg nicht mehr erlaubt.

Wer studiert, entscheidet selbst, was er tut.

Es gibt klare Richtlinien und Vorgaben, wann, wie oft und wie Prüfungen zu bestehen sind und auch, wie oft man maximal eine einzelne Prüfung nicht bestehen darf. Danach ist das Studium vorbei. Studierende lernen also, im Idealfall, nicht nur inhaltlich sehr viel über ihr Fach und erweitern dadurch ihre fachlichen Qualifikationen, sondern eben auch, ihren Studienalltag selbst so zu strukturieren, dass die geforderten Leistungen erbracht werden können. Gesellschaftlich ein großer Lerneffekt, den viele Studierende aus den Jahren und Jahrzehnten vor der Umstrukturierung des Bildungssystems genießen durften. Und wer weiß, womöglich sieht der Zeitplan des ein oder anderen auch heute noch vor, eben nicht in der Regelstudienzeit von drei Jahren fertig zu werden. Denn das kann dazu führen, dass man die Studieninhalte an vielen Stellen allenfalls oberflächlich streift. Oder, um es mit den Worten eines Dozenten zu sagen:

Wenn ihr dann fertig seid, könnt ihr alles irgendwie ein bisschen, aber nix richtig.

Darüber kann man durchaus geteilter Meinung sein. Alle Studierenden haben die Möglichkeit (und Pflicht), sich auf bestimmte Bereiche von Online-Redaktion zu spezialisieren oder sich dafür zu entscheiden, allgemeine Kenntnisse zu haben, und sich vom Zufall und der späteren beruflichen Ausrichtung treiben zu lassen. Denn das ist es doch, was dieses Berufsfeld so spannend und einzigartig macht: Innovation, Veränderung und eben ein Stück weit Zufall.

Sich selbst ein Vorbild sein

Niemand der Personen, die diesen Studiengang begründet haben, der im Januar sein zehnjähriges Bestehen feierte, hat selbst Online-Redakteur studiert. Trotzdem haben es alle in ihren Fachbereichen weit gebracht, sind anerkannte Fachleute und haben in diesen zehn Jahren nicht weniger anerkannte Fachleute ausgebildet. Aber niemand hat ihnen gesagt, zu welchen Zeiten und mit welchen Inhalten sie was zu tun haben. Auch selbstständiges Planen und Gestalten von Inhalten ist ein wichtiger Faktor auf dem Weg zum Erfolg.

Groß ausgedrückt: Mark Zuckerberg hat wohl kaum das Facebook-Imperium auf die Beine gestellt, weil er sich immer genau an penible Vorgaben von Leuten gehalten hat, die vor ihm führend in der Online-Branche waren.
Klein ausgedrückt: Mancher versteht die praktische Anwendung von Webstandards sehr schnell, ist also wirklich genervt von der x-ten Wiederholungsaufgabe, zu der er zwei Stunden in der TH vor Ort anwesend sein muss, die er aber genauso gut in 20 Minuten zuhause hätte erledigen können. Ohne jeweils eine halbe Stunde An- und Abreise, in der für gar keine sinnvolle Tätigkeit Zeit ist. Dafür hat dieselbe Person womöglich Schwierigkeiten beim Schreiben von journalistisch anspruchsvollen Texten verschiedener Gattungen und ist dankbar für die Möglichkeit, Stärken und Schwächen des eigenen Lösungsvorschlags für eine Neugestaltung schlecht formulierter PR-Texte mit Dozenten zu diskutieren. Dieses Beispiel funktioniert natürlich genauso gut anders herum und mit diversen anderen Kursen und Inhalten.

Eher Hindernis als Hilfe

Was in allen Fällen gilt: Ein fixer, nicht individuell gestaltbarer Stundenplan mit ausschließlich teilnahmepflichtigen Kursen als Rahmen führt die vermittelten und von fast allen Dozenten mit Leidenschaft vorgelebten Inhalte ad absurdum. Keine der Studierenden im Fach Online-Redakteur stellen sich den eigenen Stundenplan selbst zusammen. Von Beginn des Studiums an gibt es einen festen Plan, in dem genau steht, welche Kurse an welchen Tagen stattfinden. Das mag natürlich organisatorische Gründe haben. Der Studiengang wächst stetig, bleibt aber doch mit unter hundert Studierenden pro Jahr recht klein, es gibt pro Kurs einen Dozenten. Also bleibt nicht die Wahl zwischen mehreren Dozenten und verschiedenen Terminen, an denen man Kurse belegt, wie in vielen anderen Studiengängen üblich. Das ist nicht unmöglich, sondern allenfalls gewöhnungsbedürftig.

Schon in der Sekundarstufe II (mit der die meisten Studierenden in Deutschland Erfahrung haben) werden inhaltliche Rahmenvorgaben gemacht, aber die Schüler selbst wählen innerhalb dieser ihre Fächer und spezialisieren sich in eine Richtung. Dementsprechend gestalten sich die Stundenpläne für sehr viele Schüler unterschiedlich. Im Studiengang Online-Redakteur ist das (zunächst und überwiegend) nicht so. Schwierig wird das aber erst dadurch, dass man als Studierender eben auch in wirklich jeder auf dem Stundenplan vermerkten Stunde anwesend sein muss. Für Studierende, aber auch für Dozenten kann das oft eher Hindernis als Hilfe sein.

Zwei Beispiele:

  1. Ein Dozent bietet einen sehr trockenen, theoretischen Inhalt an, ist selbst spürbar wenig enthusiastisch und interessiert sich nicht wirklich dafür, ob die vor ihm versammelte Studierendenschaft nun seinen lethargisch vorgetragenen Ausführungen folgt, oder doch lieber den neuesten Trends auf Twitter. Erst wenn plötzlich kaum noch jemand im Kurs sitzt, fällt ihm das auf und der Studiengangsleiter erinnert am Tag darauf alle per Mail an die Teilnahmepflicht.
    Für den Dozenten eigentlich leicht verdientes Geld. Er muss nur vorn stehen, sicherstellen, dass genügend Leute da sind und hat seinen Job erledigt, wenn alle die Prüfung bestehen. Mit Inhalten, die aus Dateien zu entnehmen sind, die auch jeder herunterladen und studieren kann, der gar nicht vor Ort war.
    Nur, wenn plötzlich fast niemand mehr im Kurs sitzt, könnte auffallen, dass der Kurs an sich vielleicht nicht unwichtig ist, die Anwesenheitspflicht aber schon.
  2. Ein Dozent bietet in einer sogenannten Blockveranstaltung am Ende eines Semesters einen spannenden, durchaus auf Beteiligung der Studierenden aufgebauten Kurs an, der mit einer gemeinsamen Präsentations- und Diskussionsrunde abgeschlossen werden soll. Ungünstigerweise müssen die meisten Studierenden am letzten Tag dieses Blocks ihre Abschlussarbeit in einem anderen Kurs abgeben. Dementsprechend sind zwar die meisten Studierenden anwesend, arbeiten aber konzentriert an ihren PCs, ohne sich weiter für den Kursinhalt zu interessieren. Wozu auch? Ausreichend zum Bestehen ist die Anwesenheit.
    Der Dozent gibt schließlich auf, hält drei Tage lang sehr uninspiriert und offenkundig frustriert theoretische Vorträge und schickt anschließend alle früher nach Hause, damit sie ihre Arbeiten fertig stellen können. Sehr ärgerlich für alle, die in der Lage waren, ihre Zeit so einzuteilen, dass die Abschlussarbeit bereits vor diesem Block fertig gestellt war, damit sie in diesem mitarbeiten und praktische Erfahrung sammeln können.

Fazit:

Ein auf diese Weise angelegtes Studium fördert nicht nur keine Selbständigkeit, es bekämpft sie sogar! Wer in der Lage ist, sich an strickte Zeitpläne zu halten, ohne dabei auch nur das Geringste inhaltlich beisteuern zu müssen, hat am Ende womöglich schneller seinen Studienabschluss in der Tasche als jeder, dem es auf inhaltliche Tiefe ankommt und dem es gelingt, diese durch Anwendung und Auslotung seiner Stärken und Schwächen zu erreichen.
Wenn man diesen Gedanken zu Ende führt, haben wir in einigen Jahren ein Internet voll von gut ausgebildeten Online-Experten, die nur dann funktionieren, wenn man ihnen genau erklärt, wie. Ähnlich verhält es sich übrigens durchaus auch in anderen Bachelor-Studiengängen. Die Frage ist nur, ob wir das wirklich wollen!

Ich ticke da einfach anders und – das ist ja das Paradoxe daran – die meisten Studierenden und Dozierenden in meinem Studiengang ebenfalls. Der Studiengang Online-Redakteur hat sich, wie auch die Inhalte, die in ihm gelehrt werden, in den letzten zehn Jahren sehr stark verändert und weiterentwickelt. Inhaltlich ist er Vorbild für Innovation und Flexibilität. Den mir nachfolgenden Jahrgängen wünsche ich, dass er das auch strukturell bald wird und ihm nicht die als starr und theoretisch geltenden Lehrpläne für BWL an Universitäten in dieser Hinsicht den Rang ablaufen. Diese und weitere Tücken gehören wohl zum OR-Alltag. Was aber ja nicht heißt, dass Optimierung unmöglich ist. Wer meiner – oder anderer – Meinung ist: Feel free to comment! Ich freue mich über jede Form von Diskussion, Dialog und Kritik.

Und wer weiß, vielleicht sehe ich das alles nach einigen Jahren Berufserfahrung auch selbst völlig anders. Ich freue mich jedenfalls, Teilnahmepflicht hin oder her, auf meine restliche Studienzeit und bin weiterhin froh und stolz, ein Teil der OR-Gemeinschaft zu sein!

*Inzwischen wird der Studiengang auf der Website der TH Köln übrigens wirklich mit „Online-Redaktion“ bezeichnet.

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