Hirschfeld-Tage. Runder Tisch der Aidshilfe NRW 2014. Über zwanzig Menschen, deren Alter, Herkunft, Fachgebiet und Meinung zum Teil völlig unterschiedlich ist, diskutieren einen ganzen Samstag lang über Existenz und Zukunft von Szene. Am Ende stehen viele Ergebnisse. Warum eines davon Wurst ist. Warum dabei die Begriffsklärung „Szene“ nur bedingt funktioniert. Und warum vielleicht gerade das eine Erklärung ist: Ein Aufarbeitungsversuch in mehreren Akten.
10.05.2014.
Am Anfang war das Wort. Auch im 21. Jahrhundert nach Christus kommt eine Veranstaltung, in deren Zentrum die schwule Szene steht, eben nicht umhin, klare Parallelen zur Menschheitsgeschichte laut Bibel aufzuweisen.
Moderator Matthias Kuske erläutert gleich zu Beginn, woraus diese vieldiskutierte und heute im Mittelpunkt stehende Szene denn eigentlich besteht. Er malt vier Kästen auf ein Flipchart und beschriftet sie mit Schlagworten. Die Szene als „Dach“ wird dabei von drei Säulen getragen. Drei? Mehr nicht? Nicht nur bei genauerem Überlegen im Vorfeld der Veranstaltung, sondern auch im Verlauf der Diskussion selber, kommen ernsthafte Zweifel daran auf, dass es wirklich so einfach ist mit der Begriffsklärung. Aber das ist natürlich gut so. Ein vollständig von Konsens begleiteter Vortrag taugt schließlich wenig als Ausgangsthese für einen ganztägigen Diskurs.
Das trifft auch auf die beiden Vorträge zu, die sich an die kurze Begrüßung und Einleitung anschließen.
Martin Reichert hat ein markantes Erscheinungsbild. Groß, kräftig, kahlköpfig. Und trotzdem sind da diese weichen Gesichtszüge und das Lächeln, das seine Mundwinkel umschließt, ganz egal was er sagt oder tut. Er wirkt nachdenklich aber dabei immer humorvoll. Alle diese Eindrücke verstärken sich noch, wenn Martin Reichert zu reden beginnt. Die Freundlichkeit in seiner Stimme lässt dennoch keinen Zweifel zu, dass er weiß und meint, was er sagt. Er führt Beispiele aus seinem Wohnort an, Berlin. Dort gebe es Läden, die schon immer da waren, aber gerade eine Art „Revival“ erlebten. Die zur Szene gehörten, die sich zwar sehr stark verändert habe und verändere, aber noch immer da sei. Das „Schwuz“ sei so ein Laden. Dorthin gehen alle, die mal eben nur einen Drink zu sich nehmen wollen* genauso, wie alle, die Feiern, Leute länger- oder auch nur sehr kurzfristig kennenlernen wollen. Ein bisschen so wie früher eben, sagen viele, die dieses „früher“ erlebt haben. Und das „Schwuz“ sei nicht die einzige Lokalität, an der sich dieses Phänomen beschreiben lasse. Reichert nennt Läden, die man kennt als Berliner. Sogar, wenn man sich dort nicht Szenegänger aufhält und fühlt, kommt man nicht vorbei an manchen Ecken der Hauptstadt.
Was aus seinem Vortrag als ein, wenn nicht der wesentliche Unterschied zwischen Szene heute und früher hervorgeht, ist etwas, das er als „Bunkermentalität“ beschreibt. Also die aus Intuition, dem Streben nach Schutzraum und Gemeinschaft und womöglich auch ein wenig Naivität und mangelndem Wissen um Alternativen entstehende Abgrenzung von Ballungsräumen schwulen Lebens. Wer schwul ist und nach Berlin zieht, lässt sich zunächst da nieder, wo alle anderen Schwulen sind. Das stimmt natürlich nicht pauschal, ist aber sehr deutlich festzustellen, wenn man sich die Verteilung von sogenannten Szeneläden ansieht und weiß, wo Schwule in Berlin leben. Diese Mentalität habe aber nachgelassen im Laufe der Zeit, findet Reichert. Die schwule Szene sei eben „keine Notgemeinschaft“ mehr, sondern „Teil der Zivilgesellschaft“ geworden. Womit er, vielleicht ohne es zu wissen, bereits einen der zentralen Diskussionspunkte nennt. Ist das so? fragen (sich) viele im Laufe des Tages.
Ganze sieben Minuten spricht Martin Reichert, dann ist er fertig. Und erstaunt, dass er alles, was er sagen wollte sogar deutlich schneller als in den vorgegebenen zehn Minuten Redezeit mitgeteilt hat.

Dirk Ludigs ist rein optisch ein völlig anderer Typ als sein Vorredner. Kleiner, schmaler und irgendwie beweglicher wirkend. Er trägt Brille und hat volles Haupthaar. Seine Gesichtszüge sind weniger weich, aber ebenso markant. Auch er drückt Grundfreundlichkeit und Humor aus. Nicht um seine Mundwinkel, vielmehr mit seinem ganzen Wesen. „Ich werde irgendwie immer eingeladen, wenn es um die schwierigen Themen geht!“
Schon nach seinem ersten Satz schallt Gelächter durch den Raum.
Direkt danach, noch ganz zu Beginn seines Vortrags, stellt er fest, dass er sich eigentlich gar nicht so uneinig ist mit Reichert. Es also, anders als in der Einladung angekündigt, nicht direkt ein Streitgespräch geben wird. „Die Szene ist tot, es lebe die Szene“ ist das Motto der Veranstaltung. Welche Szene eigentlich? fragt Ludigs. Für ihn sei die Szene das gesamte existierende LGBTI*-Leben. Er zitiert David Berger, ohne zu erklären, wer das überhaupt ist**, der die Organe der Szene als Homo-Lobby bezeichnet, die mit einer gemeinsamen Stimme sprechen müsse. Mehr sein, als eine Ansammlung von Kneipen und Straßen. Ein Ort der Identitätssuche. Interessant, das Ludigs diese Bewegung erwähnt, wo er doch eigentlich die Position vertreten soll, dass die Szene sich überlebt habe. Dementsprechend hinterfragt er auch gleich im Anschluss, inwiefern diese Idee überhaupt praktikabel ist. Früher, sicher, da habe man gesagt „Bau eine Mauer drum und du hast sie alle“ um auszudrücken, dass die schwule Szene eben auch eine räumliche ist, ein „Ghetto“ in dem sich alle Beteiligten niederlassen, um eine gemeinsame Identität zu finden. Das sei in Ansätzen auch noch heute so. Auch er nennt Berlin als Beispiel dafür. Die Motzstraße mit ihren gefühlt Hunderten Kneipen, Shops und Geschäften, die alle, ob offensichtlich oder nicht, Teil des schwulen Lebens sind. Aber er beschreibt etwas, das bei den Besuchen dieser Gegend deutlich auffällt. Die gesamte Straße ist in den 80ern stehen geblieben. Das gilt für die Gebäude, die Ausstattung und Einrichtung der Läden und Bars, die Kleidung der Menschen die dort arbeiten und sogar die Musik, die man dort hört. Klar, es läuft nicht mehr nur Rosenberg, sondern auch mal Fischer, aber immer wieder unterbrochen von den Diskothekensounds der 80er und bisweilen sogar klassischer Musik. Es ist eine Traumwelt, eine Erinnerung an eigentlich vergangene Zeiten.
Eigentlich sei diese ganze Diskussion ja auch absurd. Man stelle sich nur einmal vor, Heterosexuelle aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft würden sich treffen und diskutieren: „Macht die Reeperbahn glücklich?“ Denn zur Identitätsfindung, als Schutzraum und in sich geschlossener Bereich sei das Konstrukt Szene nicht nur nicht mehr notwendig sonder schlicht nicht existent. Straßenzüge mit Szene-Charakter dienten zum Vergnügen, als Partymeile und zur Alltagsflucht, wie in der heteronormativen Welt eben auch. Eine „schwule Reeperbahn“. Einen Provokanten Denkanstoß will er geben. Er behauptet, ganz besonders in diesem Bereich, den man heute als Szene kenne, gebe es eine Überschneidung von Szenen. Die schwullesbische***, Drogen- und Partyszene seien mitunter nicht zu trennen. Er widerspricht Martin Reichert damit nicht, er ergänzt ihn.
Die drei Minuten, die Martin Reichert gewonnen hat, holt Dirk Ludigs locker wieder rein. Er kommt in Redefluss, liest aus Heften vor, zitiert Autoren und Provokateure, die behaupten, schwule Männer seien bisweilen vergleichbar mit Vietnam-Veteranen. Nicht alle kaputt, gesellschaftliche Randakteure und gezeichnet, aber dennoch einer größeren Chance unterliegend, es zu sein. Schwule Männer seien eben geschichtlich gebranntmarkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in der Zivilgesellschaft an den Rand gedrängt und womöglich deshalb negativ auffällig würden, sei eben höher als bei Heterosexuellen.
Das soll also Szene sein? Geografische Ballungsräume, Party- und Drogenexzesse, quasi eine schwule Reeperbahn?
Sowohl die Einleitung als auch beide Redner geben zunächst wenig Anlass, überzeugt zu sein, von diesem Konstrukt. Aber das sollen sie ja auch nicht. Beide stellen deutlich klar, eine vorgegebene These zu vertreten. Und das machen sie gut, zum Teil mit provokanten Aussagen untermauert. „Inputgeber“ werden sie im Einladungsschreiben der Veranstalter genannt. Und Input ist da. Schon während der Vorträge gibt es Reaktionen bei den Zuhörern. Im Anschluss ist Zeit für Rückfragen und Diskussionen. Und so gibt es zwar einige Fragen, aber vor allem Kommentare, gegensätzliche Meinungen zu beiden Rednern und zum Teil auch unter den eingeladenen Experten der Diskussionsrunde, die bisher nur in der Rolle der Zuhörer waren.

Der erste Abschnitt des Tages kann die Frage nach dem Inhalt, der Bedeutung von Szene also nicht beantworten. Im Gegenteil, er wirft weitere, tiefer gehende Fragen auf. Der Rest dieser Veranstaltung, vor allem die Diskussionen der Teilnehmer untereinander, die verschiedenen Arbeitsschritte, bei denen die Veranstalter nach Feedback und Orientierung für ihre Arbeit streben und jeder für sich auf der Suche nach der Antwort auf seine ganz persönlichen Fragen ist, versprechen schon jetzt spannend zu werden. Bei der Zusammenfassung, was jeder für sich selbst aus diesem „Pseudo-Streitgespräch“ mitnimmt, fällt ein Satz, irgendwo in der Menge von Gedanken, als einer von vielen, der heraus sticht. Schon zu dieser noch recht frühen Tageszeit bildet er ein Fazit, das auch am Ende Bestand haben wird. Reinhard Klenke, stellvertretender Landesgeschäftsführer der Aidshilfe NRW und Organisator der Veranstaltung, ist begeistert: „Das könnte doch schon die Überschrift zu dieser Veranstaltung sein!“
Mut zum Wandel braucht Visionen!
Runder Tisch Kreathiv Präventhiv 2014
* Zugegeben, „mal eben schnell“ geht in diesem Laden nicht. Es ist voll, laut und die Bedienung entsprechend, sagen wir, beschäftigt, um nicht von überfordert zu sprechen.
** Das muss er in dieser Runde auch nicht. Dr. David Berger ist Theologe, schwul und Herausgeber des Magazins „Männer„.
*** „schwullesbisch“ – allein das sei eine Überschneidung. Vor Jahren habe es hier die Schwulen und dort die Lesben gegeben. Von einer gemeinsamen Identität zu sprechen ginge wohl auch noch heute oft zu weit, obwohl es eine gemeinsame Szene ganz offensichtlich gibt.
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