Freiheit ist ein hohes Gut. Vielleicht das höchste, das wir haben. (ja, ich weiß, ich habe schon einmal einen Beitrag so begonnen.) Das wird vielen Menschen insbesondere dann bewusst, wenn ihre Freiheit eingeschränkt ist. Seit einigen Wochen gilt das in großen Teilen der Welt, so auch in Deutschland. Und natürlich bleibt das nicht ohne Folgen. Die Proteste häufen sich, der Geduldsfaden wird dünner. Und natürlich bleibt auch das nicht ohne Folgen. Rein rechtlich sind seit letzter Woche wieder sehr viel mehr Dinge möglich, die wir alle noch vor wenigen Wochen als selbstverständlich hingenommen hatten. Und auch diese Woche kehrt die Freiheit Stück für Stück zurück. Doch Freiheit bedeutet auch, entscheiden zu können, was man nicht tut, auch wenn man es darf. Je nachdem, wie man sich entscheidet, gefährdet man damit womöglich das Leben anderer. Das gilt zwar grundsätzlich immer, aber zurzeit ganz besonders.
Erhöhte Sicherheit geht immer zu Lasten der Freiheit. Das gilt bei der Bekämpfung von Terrorismus – und Viren. Eine häufig gestellte Frage lautet: „Wie viel von unserer Freiheit wollen wir für mehr Sicherheit aufgeben?“ Was ist (noch) vertretbar, was nicht? Ein Treffen mit Freunden, zu zweit, draußen und mit etwa zwei Metern Abstand zu anderen Menschen? Mit mehr als zwei Personen, die man gut kennt und zu denen man regelmäßig Kontakt hat und zu denen man beim Treffen den empfohlenen (und vorgeschriebenen) Mindestabstand einhält? Wie ist es mit Eltern, mit Familie im Allgemeinen, Risikogruppe hin oder her? Ich war noch nie ein Verfechter allgemeiner Moral. Und trotzdem interessiert mich die Meinung anderer. Wie viel Freiheit ist, aus moralischer Sicht, erlaubt?
Letzte Woche war ich beim Stammtisch. Ja, wirklich. Diese Veranstaltung, bei der man mit mehreren Leuten in geselliger Runde zusammensitzt, ein bisschen was trinkt, sich auf den aktuellen Stand bringt und über Ereignisse in der Region und Gesellschaft austauscht. Doch in Zeiten des Corona-Virus geht das natürlich nicht einfach so in unserem Stammlokal. Also trafen wir uns digital, zum Videostammtisch, alle schön brav zu Hause. Wenn die Internetverbindung mitspielt ist das gar nicht so übel. Man kann verschiedene Hintergrundbilder ausprobieren, darüber philosophieren, ob der Weichzeichner nun vorteilhaft ist oder nicht und auch sonst allerlei lustige Dinge tun, die beim Stammtisch sonst nicht möglich sind. An die Filter der Snap-Cam, die das Gesicht (oder auch das ganze Bild) entscheidend verändert, kommt allenfalls der Stammtisch zu Karneval noch heran. Gesellschaftsspiele wie Stadt-Land-Fluss und Montagsmaler sind zwar auch beim Stammtisch in der realen Welt möglich, aber digital viel leichter umsetzbar: Auf den Link geklickt und los geht‘s!
Wir haben viel gelacht, uns gefreut, einander endlich einmal wieder zu sehen und eine Weile miteinander zu verbringen. Es gab durchaus persönliche Treffen, bei denen wir nicht so lange zusammen saßen, wie dieses Mal. Und doch schlossen wir am Ende mit dem Wunsch, einander bald auch mal wieder persönlich zu sehen. Die technischen Möglichkeiten der heutigen Zeit vereinfachen vieles. Ein Chat wird eingerichtet, alle, die teilnehmen möchten, bekommen einen Link und schon sieht man einander auch in einer recht großen Gruppe. Schöne neue Welt! Auch das ist ein Gefühl von Freiheit. Kontakt, zu wem man möchte, ganz egal wie weit entfernt man voneinander ist. Aber die Verabschiedung zeigt: Den wirklichen, echten, persönlichen Kontakt zu Menschen kann das einfach nicht ersetzen.
Ein langjähriger Freund lädt normalerweise mindestens ein Mal pro Woche einige Leute ein, zu sich nach Haus oder alternativ in eine Räumlichkeit in der Stadt. Dort wird dann etwas zusammen gegessen und es werden ein paar Gläser Wein getrunken. Vor allem aber genießt man, einander zu begegnen. Zeit in direkter Nähe zu anderen Menschen zu verbringen. In den letzten Wochen fanden diese Treffen nicht statt. Dementsprechend konnten nicht nur die Menschen, die dort zu Gast sind, einander nicht mehr sehen, sondern auch der Gastgeber seine Gäste. Das birgt eine der größten indirekten Gefahren durch die Einschränkungen der Freiheit: Einsamkeit. Leute, die allein leben, haben kaum noch Chancen, die Menschen, die ihnen viel bedeuten, regelmäßig zu sehen. Das hat nur bis zu einem bestimmten Punkt mit Disziplin zu tun.
Aus diesem Grund flatterte dieser Tage wieder eine solche Einladung ins Haus. Die Liste der eingeladenen Person war erheblich kürzer, die Sitzordnung sah vor, dass der Mindestabstand jederzeit eingehalten werden kann. Aber so konnten sich wenigstens insgesamt fünf Personen, die einander gut kennen und normalerweise oft sehen, wieder einmal vergleichsweise nah sein. Auch wenn es ein seltsames Gefühl ist, so weit voneinander entfernt zu sitzen. An einem Tisch, der seltsam leer wirkt. Ab dieser Woche dürfen in Nordrhein-Westfalen auch Restaurants wieder öffnen. Die Vorkehrungen dort dürften der Situation an diesem Tisch sehr ähnlich sein. Ob das aus wissenschaftlicher und medizinischer Sicht sinnvoll ist, ist fraglich. Aber wie sieht das moralisch aus? Kann man das machen?
Noch viel mehr denke ich über diese Frage nach, wenn es um meine Familie geht. Meine Großeltern sind alle über 70, sogar fast alle über 80. Schon aus diesem Grund gehören alle zur Risikogruppe, ganz egal, ob es ihnen gesundheitlich wirklich gut geht. Auch meine Eltern sind über 50. Dementsprechend war in den vergangenen Wochen der persönliche Kontakt eigentlich nicht existent. Und das, obwohl mehrere Geburtstage in die letzten Wochen fielen. Alle hielten sich eisern an die Empfehlungen und Kontaktbeschränkungen. Die Familienmitglieder überlegten sich verschiedene Dinge, um insbesondere meine Großeltern aufzumuntern. Wie einigen anderen auch schrieb ich ihnen einen Brief. Und ja, das ist alles schwierig, aber ja, es war auch schon einmal sehr viel schwieriger. Insbesondere die Menschen aus der Generation meiner Großeltern wissen das aus eigener Erfahrung.
So, wie sie damals als Kinder die Einschränkungen der Freiheit erlebten, werden auch viele Kinder sich später an die heutige Zeit erleben. Glücklicherweise sind die Gründe dafür völlig andere. Aber das macht eben auch die Einschätzung so viel schwieriger, wie man sich verhält. Ich finde es wichtig, das Wohl der Allgemeinheit zu achten und danach zu handeln. Und ich finde es wichtig, das Wohl eines einzelnen Menschen dabei nicht zu vergessen. Ist es also nun aus moralischer Sicht verständlich, wenn ich nun nach Wochen des spärlichen Kontakts meine Eltern besuche? Mit meiner Mutter einen Spaziergang zu machen (schließlich ist das weiterhin nur zu zweit erlaubt)? Ist es in Ordnung, am Haus meiner Großeltern angekommen uns dort in den Garten zu setzen und ein Stück Kuchen (na ja, zwei Stücke, als ließe sich Oma auf irgendetwas darunter ein) zu essen, wenn wir alle darauf achten, den Mindestabstand zueinander einzuhalten?
Meine Großeltern pflegen ihre sozialen Kontakte auch weiterhin. Mit Maske, Abstand und gesundem Menschenverstand. Ist es dann noch meine Verantwortung, sie nicht zu sehen, auch, wenn sie sich das wünschen? Wenn ich mir das wünsche? Ein Risiko gehe ich auch ein, jedes Mal, wenn ich die Straße überquere. Und wenn meine Angst zu groß wird, überfahren zu werden, sollte ich wohl nicht mehr die Straße überqueren. Oder überhaupt aus dem Haus gehen. Und selbstverständlich sollte ich auch nicht so oft und rücksichtslos die Straße überqueren, dass das andere, unschuldige beteiligt. Letzten Endes bleibt es eine Frage der eigenen Einstellung und Überzeugung.
Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, weiß ich noch nicht so recht, wo ich stehe. Natürlich finde ich es verantwortungslos, wenn sich große Gruppen von Menschen versammeln, um bewusst und absichtlich gegen die Kontaktbeschränkungen zu verstoßen. Auch, wenn das eine Demonstration für Freiheit sein soll. Auch fände ich sicher nicht sinnvoll, nun wieder jeden Tag von vielen Menschen umgeben zu sein, von denen ich nicht weiß, wie diese wiederum mit den Empfehlungen umgehen. Aber ich kann nicht ohne Weiteres beantworten, ob es okay ist oder nicht, nach mehreren Wochen auch mal wieder meine Freunde, meine Familie wiederzusehen, von denen zumindest niemand akute Vorerkrankungen hat. Bin ich dadurch verantwortungslos? Wem gegenüber? Inwiefern? Wie viel Freiheit ist, aus moralischer Sicht, erlaubt? Und wer entscheidet das?
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